HEINZ RUDOLF KUNZE: Seit über 40 Jahren eine Bank in der deutschen Musikszene
Unglaublich, aber wahr: Seit über 40 Jahren mischt HEINZ-RUDOLF KUNZE in der deutschen Musikszene mit. Es gibt kaum jemanden, der sich so “zwischen die Stühle” gesetzt hat wie er. Immer wieder hat er deutlich gegen den Schlager Position bezogen – ist andrerseits aber bei sehr konservativen Schlagershows z. B. von DIETER THOMAS HECK aufgetreten. Nun legt der streitbare Osnabrücker ein spannendes Best Of mit Neuaufnahmen seiner von Fans ausgewählten besten Lieder vor. Tolle Idee: Die Namen derer, die für die 24 Lieder gevotet haben, finden sich im Booklet. Da dürften doch alle “Nominierenden” Lust verspüren, sich das Album zu kaufen :-)…
Los geht es mit dem Song “Meine eigenen Wege” aus dem Jahr 1988 (Album “Einer für alle”). Vermutlich ein typisch autobiografischer Song, weil HRK immer für seine eigenen Ansichten stand. In der neuen Version ist der Titel recht handgemacht produziert worden.
Völlig neu arrangiert wurde der Knaller “Alles, was sie will” – ein Lieblingssong des “Verfassers dieser Zeilen”, wie sich der verstorbene KUNZE-Fan und Musikjournalist HOLGER STÜRENBURG einst auszudrücken pflegte. Mit interessanten Bassläufen wird die Ode an die verehrte Dame des Herzens unterstrichen. Bis heute ein grandioser Song des Meisters aus dem Jahr 1989 – damals schaffte der Song es sogar in die Single-Charts.
Wir bleiben in den 1980er Jahren: Aus dem legendären Album “Wunderkinder” von 1986 stammt der Titel “Ich brauch dich jetzt“. Auch in der neuen Version verursacht die Ballade beim Hörer Gänsehautgefühle – Wortbilder wie “Verstand verstaucht” und “Ich brauche jemand, der mir auf die Brille haut” sind bis heute genial – kein Wunder, dass hier und da Vergleiche zum Kollegen HERBERT GRÖNEMEYER getroffen werden – der hochwertige Song könnte tatsächlich auch von HERBERT stammen – eine schöne neue Version mit schönen 80er-Synthesizer-Sounds.
Den schönen Song “Mit Leib und Seele” (teils mit Kopfstimme gesungen) hat HRK vor einigen Jahren mit JULIA NEIGEL neu aufgenommen – die 2021er Version ist ebenfalls zwar mit Synthie-Sounds unterlegt, was der Neuaufnahme einen gleichzeitig modernen und nostalgischen Anstrich verleiht. Kein Wunder, dass das anspruchsvolle Liebeslied von ATZE SCHRÖDER als dessen Lieblingslied benannt wurde.
Aus dem Album “Korrekt” stammt die Single “Aller Herren Länder“, mit der HRK 1999 für Aufmerksamkeit sorgte. Mit Texten wie “Du wirst nie Zuhause sein, wenn du keinen Gast, keine Freunde hast” setzte er damals Maßstäbe.
Als Lied Nummer 6 wird dann der Über-Hit von HEINZ-RUDOLF KUNZE präsentiert. Die neue Aufnahme ist dem Zeitgeist angepasst – aber irgendwie ist auch die Originalversion schön: “Dein ist mein ganzes Herz“. Es war der erste und letzte Top-10-Hit des Künstlers, der sich 16 Wochen in den Single-Charts gehalten hat.
Aus dem gleichnamigen Album stammt ein weiteres Werk des Künstlers: “Vertriebener” aus dem Jahr 1985. Textpassagen wie “Meine Mutter war so treu, dass mir schwindlig wird. Mein Vater war bei der SS. Ich heiß Heinz wie mein Onkel, der in Frankreich fiel und Rudolf wie Rudolf Hess” zeigen, dass HRK schon damals ein Liedermacher mit Haltung und ein Freund offener Worte war.
In seinem Buch bezeichnet der Sänger diesen Titel als einen der wenigen autobiografischen Lieder seines Lebens. Wobei der Name Rudolf von seinem Vater stammt, was also (bezogen auf den Song) dichterische Freiheit ist. Auch das mit der Mutter ist oberflächlich betrachtet zwar richtig, aber in seinem Buch gibt es noch einen anderen Aspekt zu lesen – für die, die es interessiert…
In seiner Autobiografie beschreibt HEINZ RUDOLF KUNZE, wie genial es war, von JÜRGEN VON DER LIPPE angesagt zu werden. Einer der Songs, der von JÜRGEN so angesagt wurde, war “Leg nicht auf” – ein tiefsinniges Liebeslied, dessen Charakter nach unserem Eindruck nicht stark verändert wurde – balladesk, wie es großartigen Texten der Marke “Glück gibt’s nicht im Sommerschlussverkauf” passt. Eine weitere echte Perle des Schaffens des Meisters.
Der erste kleine Hit von HRK war wohl 1984 die deutsche Version des KINKS-Klassikers “Lola“. Nun sind solche deutschen Coverversionen oft verzichtbar, das verhält sich in diesem Fall anders. Da muss man erst mal drauf kommen: “Ich traf sie in ‘nem Imbiss in Dortmund-Nord, es roch stark nach Schaschlik und ‘n bisschen nach Abort” – genial! Während das Original recht rockig daherkommt, ist die neue Version von Synthesizern begleitet und damit vom Soundcharakter schon sehr verändert. Vielleicht ist das aber auch zu konservativ gedacht…
Schon immer war HRK für seine originelle Themenvielfalt bekannt. Einen Song über Privatdetektiv Marlowe aus dem Film bzw. Buch “Der Tod kennt keine Wiederkehr” zu machen – darauf muss man erst mal kommen. Als erste Single aus dem Album “Wunderkinder” wäre “Finden Sie Mabel” vielleicht ein absoluter Tophit geworden, so ist es immerhin ein Evergreen des Meisters. Im Original leicht Country-angehaucht, hat man dem Song nun einen Anstrich des typischen 1980er-Sounds gegeben – ein bärenstarker Song.
Beim Album “Dein ist mein ganzes Herz” hat man zweifelsohne die richtigen Single-Auskopplungen gewählt. Nicht nur der Titelsong war ein Riesenhit, auch “Dies ist Klaus” war als Nachfolge-Single ein sehr populärer Titel – auch wenn kurioserweise auch dieser Song trotz seiner großen Popularität nicht in die Singlecharts kam. Die Textzeile “Besondere Kennzeichen: keine” entnahm HRK übrigens seinem damaligen Personalausweise. – Der Song über den Mann ohne besondere Kennzeichen geht auch in der neuen Version gewaltig nach vorne – Gitarrensolo inklusive.
Während das Original rockig-kommerziell daherkam und auch 1991 in den deutschen Single-Charts vertreten war, ist die Neuauflage von “Wenn du nicht wiederkommst” eher balladesk gehalten, manche Töne wurden auch anders gesetzt als im Original. Das tut der großen Qualität dieses Hammer-Songs keinen Abbruch – ein echter KUNZE-Hit! Schade, dass er bärenstarke Titelsong “Brille” es nicht auf den “Werdegang” geschafft hat :-(…
CD 2 wird bestückt mit Songs, die HRK höchstselbst ausgewählt hat. Einen brandneuen Song präsentiert der Sänger mit “Wenn es vorbei ist“. Ohne die Pandemie explizit zu benennen, macht er sich Gedanken darüber, was es für ein “Fest” wird, wenn man wieder tun und lassen kann, was man will. Ein tiefsinniger Text, der die Lebensqualität in den Fokus rückt, die man vielleicht erst heute richtig zu schätzen weiß.
Die B-Seite von “Wenn du nicht wiederkommst” ist ein Song, auf den HEINZ RUDOLF KUNZE schon seit vielen Jahren stolz ist: “Götter in weiß” aus dem Album “Gute Unterhaltung”. Hier geht es nicht um die Ärzte, sondern um eine Hautfarbe. Stolz ist KUNZE offensichtlich nicht nur auf den Text, sondern auf die Komplexität der Komposition: Schon 1999 kommentierte HRK auf seiner Homepage diesen besonderen Song wie folgt (siehe HIER):
… am allerstolzesten bin ich auf Götter in Weiß, das wir nur ein einziges Mal live gespielt hatten. Es ist eine sehr komplexe Nummer, die meiner Ansicht nach fast nahtlos an ‘The lamb lies down on broadway’ von Genesis anknüpft.
Während das 1992er “Draufgänger”-Album recht erfolgreich war, kann dessen erste Single durchaus als Flop bezeichnet werden. Dennoch hat sich HRK dazu entschieden, den Song “Finderlohn” in seine persönliche Auswahl zu nehmen.
Als politisch engagierter Mensch ist für HEINZ RUDOLF KUNZE das Thema der Flüchtlinge eins, das ihn umtreibt. Auch in Pandemiezeiten hat er sich 2020 mit dem Song “Mit welchem Recht” bewusst dazu entschlossen, Partei für Menschen in Not zu ergreifen: “Selbst der letzte gottverlassene Fleck ist der Fleck wo deine Mutter dich trug”. Ein aktuelles Lied des Sängers, das unter die Haut geht.
“Nicht mal das” schlägt nach unserem Empfinden etwas in die “Brille”-Kerbe – in dem 1999 auf dem Album “Korrekt” erschienenen Song geht es eben darum, wenn man “nicht mal das” hinbekommt. Ein nachdenklicher Titel mit kleinem autobiografischen Bezug: Die Zeile »Ich schlug träumend eine fremde Fensterscheibe ein, / denn ich wollte bei den blutenden Soldaten sein« hat HRK in Erinnerung an seine Kindheit geschrieben, wie er in seinem Buch berichtet. In diesem Buch bezeichnet der Künstler diesen Song gar als sein “wichtigstes Lied” und “größtes Tondokument”.
Anno 2009 veröffentlichte HRK sein Ariola-Album “Protest”. Darauf enthalten der finale Song des Albums “Elixier” – eigentlich kein Protestsong, sondern eher eine Ballade. Den Song widmete der Künstler seiner Frau GABI. Laut seiner Autobiografie ist es ein Lied, “das ganz leise darüber klagte, dass wir uns nicht schon ein bisschen eher
kennengelernt hatten, wenn schon nicht in der Zeit aus Stein, dann doch wenigstens so früh, dass wir noch zusammen hätten Kinder bekommen können.”
Vor fünf Jahren veröffentlichte der Sänger das Album “Deutschland”. Darauf enthalten ein melancholischer und sentimentaler Rückblick auf die Zeit, als noch alles gut war – auf schöne alte Zeiten (“Ich war noch ein Kind und die Kindheit war schön”): “In der alten Piccaderie“. Die Erinnerung an früher, an die “gute alte Zeit” prägt viele Menschen – offensichtlich auch HRK – recht überraschend, dass er als eigentlich immer nach vorne schauender Mensch auch diese Facette in sich trägt. Diesen Ort (nache der niederländischen Grenze) gibt es übrigens wirklich, und KUNZE hat sogar ein Kapitel seiner Autobiografie dem Ort gewidmet.
Das Album “Draufgänger” hat es KUNZE offensichtlich angetan – mit “Lebend kriegt ihr mich nicht” hat er einen weiteren Song aus diesem Album neu aufgenommen. Auf seiner Homepage beschreibt der Künstler – allerdings Stand 1999 – dieses Album (eben “Draufgänger”) als sein Lieblingsalbum. Den Song bezeichnet KUNZE als “Roadmovie in neun Strophen”.
Ein sperriges und für Unterhaltungsmusik eher ungewöhnliches Thema griff HRK 2000 auf: den Tod – “Abschied muss man üben” ist zweifellos ein tiefgründiges Lied. Grund genug, das Lied im “Werdegang” einzubeziehen. Im Nachhinein begriff KUNZE, dass er mit diesem Lied bereits das “übte”, was später auf ihn zukam: Den Abschied von geliebten Menschen.
2018 hat HRK bei Electrola sein Album “Schöne Grüße vom Schicksal” veröffentlicht. Einmal mehr ist es der Schluss-Song, der es auf “Werdegang” geschafft hat – eine Ode an die Normalos dieser Welt: “Die ganz normalen Menschen“.
Aus seinem Debutalbum “Reine Nervensache” von vor über 40 Jahren hat HRK auch einen Titel ausgewählt. “Noch hab ich mich an nichts gewöhnt” beschreibt das Gefühl, den “ganz normalen Wahnsinn” nicht einfach hinzunehmen, sich bei Rückschlägen “nicht daran zu gewöhnen” – und sei es, wenn der dicke Typ lüstern ein junges Mädchen ansieht, die gierige Blicke nicht erwidert. Hierzu gibt es eine traurige und auch wieder schöne Geschichte: Der NDR-Mann, ohne den HRK nie der geworden wäre, der er wurde, KLAUS WELLERSHAUS, hat sich genau dieses Lied gewünscht, als seine Tochter ermordet wurde – vielleicht auch, weil es (anders als eigentlich von KUNZE geplant) zum Durchhalten animiert.
“Die Dunkelheit hat nicht das letzte Wort” aus KUNZEs letztem Album “Der Wahrheit die Ehre” bildet den würdigen Schlusspunkt von “Werdegang”.
Die Idee, seinen “Werdegang” auf zwei CDs zu veröffentlichen, ist originell und gut – vor allem, weil auf CD 1 die Lieder zu hören sind, die insbesondere die Fans lieben und auf CD 2 die Songs vorkommen, die HEINZ RUDOLF KUNZE besonders wichtig sind. Wer sich ein Bild über das große Lebenswerk des Rockpoeten, wie er bisweilen bezeichnet wird, machen möchte, liegt mit dem Album goldrichtig – vielleicht auch als Einstieg, um tiefer in das Werk des bemerkenswerten Künstlers einzutauchen.