+++Schlagerprofis-Rezension+++Schalgerprofis-Rezension+++
„Hab wegen dir sogar geheult und war wochenlang hackedicht“ – diese Zeile aus der ersten Single des neuen Reimalbums zeigt, wohin die Reise Matthias Reims knapp 30 Jahre nach „Verdammt ich lieb dich“ geht: Back to the Roots. Deutliche Sprache, straighte Gitarren, tolle Riffs und menschliche Emotionen – das ist Matthias Reim 2019, der mit „Eiskalt“ mindestens einen der fünf tollsten Schlager des Jahres geschrieben hat – schon jetzt in unseren Augen ein tolles „Brett“. Die Anleihe an den Manfred-Mann-Klassiker „For You“ sei ihm verziehen, weil sie einfach gut in das Konzept des Albums passt, Schlager mit Mitteln der traditionellen Rockmusik zu verknüpfen.
Mit akustischer Gitarre startet „Deep Purple und Led Zeppelin“. Und es gibt wohl keiner der Generation Reim, der nicht versteht, was er mit Worten „ich nannte dich Miss Rattenscharf“ meint – und ehrlich kommt er zur Erkenntnis: „Schlager hören war Hochverrat“ – das hat sich ja heutzutage (zum Glück) deutlich geändert. Interessantes Statement: „Behind Blue Eyes war unser Lied – da haben wir uns zum ersten Mal geliebt“. Spannend ist, dass heutzutage durchaus auch der Schlagermove ein Ereignis ist, bei dem gerne „gevögelt“ wird, wie wir HIER aufgedeckt haben – aber das nur nebenbei bemerkt. – Auch „Deep Purple und Led Zeppelin“ ist ein gitarrenlastiger Rocksong, der wehmütig, aber nicht peinlich an den „Sommer 77“ erinnert – okay, das ist vermutlich eher ein Titel, der die Ü50-Generation ansprechen wird – aber vielleicht auch die jungen Fans interessiert, „wie das damals war“, als man Schallplatten auflegte und Lieder eine ganz andere Wertigkeit hatten als in Zeiten von YouTube und Spotify.
Ungewöhnlich erinnert „Matze“ im Song „Tattoo“ an eine vergangene Liebe: „Jeder Stich war ein ‚ich liebe nur dich’“, denkt er wehmütig und etwas anklagend zurück: „Dein Neuer heißt wie ich?“, fragt er empört – offensichtlich ziert auch die Herzdame das Name „Matthias“. Vermutlich ist es kein Zufall, dass ausgerechnet dieser Song als zweite Single ausgewählt wurde – immerhin gibt es einen nicht ganz unbekannten Fernsehmoderator, der auch fragen könnte: „Was ist jetzt mit dem Tattoo auf meiner Haut?“. Auch dieser Song rockt nach vorne und ist gitarrenlastig.
Der Titel „Karma“ überrascht. Matthias singt zu Beginn A Cappella und balladesk. In seinen langsamen nachdenklichen Gesang hinein rappt plötzlich eine weibliche Stimme – niemand geringerer als Sarah Fresh, die Frau des Rappers Eko Fresh, der Coautor des Liedes ist. Die anklagenden weiblichen Zeilen („Mein Herz ist doch kein Gebrauchsgegenstand“) erinnern an die frühe Tic-Tac-Toe-Zeit. Die Sprache ist erneut deutlich: „Nicht nur ich hab’ hier Scheiß gebaut, doch ich verzeih’ dir auch und bleibe deine Frau“. Matthias Reim ist offensichtlich auch für moderne Musikströmungen wie Rap-Elemente offen, wobei, wenn man ehrlich ist, dieser „Rap“ doch eher Oli.P-Niveau hat, was ja durchaus kommerziell, aber nicht zwingend authentisch ist.
Die deutliche Sprache behält Matze auch bei „Problem“ bei. („…und wirklich Leck mich am Arsch gedacht…“, „Widerstand sinnlos, Kopf oder Zahl – scheißegal“). Der „Deep Purple und Led Zeppelin“-Groove zieht sich auch durch das Album durch. Matthias hat ein „Problem“ – er „fährt den selben Film ab“ und „begeht den selben Fehler“ – zu anziehend ist offensichtlich das weibliche Gegenüber („du bist die Süßeste, die es gibt“). Was er mit „Und ich hab, was kommt, nicht in der Hand“ genau meint, bleibt dabei der Fantasie überlassen… Das obligatorische E-Gitarrensolo im Wolfgang-Petry-Sound veredelt diesen Song.
Das Lied „Stärker“ im Kelly-Family-Sound fällt etwas aus dem Rahmen – und das nicht nur wegen des Dreivierteltakts. Das Liebeslied im Folkrock-Sound kommt innig daher und ist angetan, „einen Menschen, der mich trotz meiner Fehler so liebt“ gefunden hat. Ob „Stark(!) wie du bist, hast du mich stark(!) gemacht“ eine Liebeserklärung an seine Lebensgefährtin ist? Der Verdacht liegt zumindest nahe.
Eine Liebeserklärung an die „Hauptstadt“ folgt auf dem Fuße. Offensichtlich ist hier Berlin gemeint, das auch in diesem Jahr wieder mindestens zwei prominente Lieder zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls spendiert bekommt – von den zwei Rockröhren des deutschen Schlagers – Ben Zucker besingt auf seiner aktuellen Single „Mein Berlin“ und Matthias Reim eben die „Hauptstadt“. Auch wenn Berlin namentlich nicht genannt wird, ist doch klar, welche Stadt gemeint ist, wenn Reim singt: „Jetzt geht es los, jetzt wird es laut, jetzt wird es groß“. Später wird Berlin sogar der Status „geilster Ort“ verliehen. Eingepackt wird die Hommage an die Heimatstadt von Matthias’ Mutter in eine schöne Liebesgeschichte –„dass wir uns finden, an diesem einen Ort“. Ganz offensichtlich verbindet den Musiker eine ganz besondere Beziehung zur deutschen Hauptstadt.
Einer der wenigen Titel, die Matthias nicht selbst (mit)geschrieben hat, ist „Wo ist der Mond?“, ein melancholischer Song im Pink-Floyd-Sound, bei dem wir den verzweifelten Matthias Reim erleben („Gib mir zurück, was ich verloren hab’ – das schönste, was es für mich gab, das warst du“) – das „Schiff im Tränensee“ ist für Matze in diesem Lied verloren, was musikalisch an den Mollklängen und einem weiteren „flehenden“ Gitarrensolo klar zu erkennen ist. Die innige Bitte „komm rette mich, bevor ich untergeh’“ scheint diesmal nicht erhört zu werden – auch das ist natürlich eine Facette menschlichen Lebens, die Matthias authentisch beleuchtet – ein Song ohne erkennbares Happy-End.
Der gleiche Songautor (Alex Olivari) kann aber auch anders – „Kopf oder Zahl“ ist eine Uptempo-Nummer, die von einer Affäre erzählt – leider die Affäre der geliebten Person. Aber Matze weiß Bescheid: „Wovon du träumst, hab’ ich doch längst mitgekriegt“, postuliert er. Im Refrain stellt er seine Herzdame vor die Wahl: „Kopf oder Zahl“ und gebraucht dabei einmal mehr deutliche Wörter: „Krieg den Arsch hoch, entscheide dich, sag mir A oder B“. Und die Vokabel „Scheißegal“ nimmt man Matze einfach viel mehr ab als – mit Verlaub – Anna-Maria Zimmermann. Bei ihm wird diese Wortfindung gar nicht erst Medienwirksam zum Thema gemacht – das Wort passt einfach zu seiner ehrlichen handgemachten Musik. Erneut findet das „Sch“-Wort Einzug in einen eindringlichen Reim-Song.
Mit „Dezember“ folgt ein Titel mit klassischen Elementen – eine zum Monat passende Ballade, in der es darum geht, dass Matze „in einem kleinen Café“ „einen Brief in der Hand hält“, den er sich nicht traut zu öffnen – erst später öffnet er den Brief, der gerade mal zwölf Worte beinhaltet: „Bitte komm endlich Heim, wenn du mich vermisst so wie ich dich“. (Hoffentlich hat jetzt auch wirklich jeder mitgezählt, ob das WIRKLICH 12 Worte sind – ja, das passt! J)… – Kurios ist der Wechsel vom Viervierteltakt im fast schon obligatorischen Gitarrensolo zum Dreivierteltakt. Während vor 30 Jahren das „Telefon einfach nicht klingeln“ wollte, greift er diesmal zum Telefon und sagt: „Ich komme schon“ – diesmal gibt es ein Happy End: „Es ist niemals zu spät – selbst nicht im tiefen Dezember“ – eine Gänsehaut-Ballade.
Mit weniger Pathos, dafür schlageresker geht es im Song „Großes Kino“ zu – ein Song, der wieder die Discofox-Freunde erfreuen wird, auch wenn Jörg Bausch mit dem Lied diesmal nichts zu tun hat… Die angebetete Frau ist „großes Kino, an das ich ganz fest glaub’“. Eine schöne unbeschwerte Liebesgeschichte: „Du siehst mich an, ich sehe dein Gesicht, was schöneres Baby, gibt es einfach nicht!“: „Du bist mehr als nur ne fixe Idee“, schwärmt Matthias in diesem flotten Lovesong.
Abgerundet wird das Album „MR20“ mit einem der Hits des Jahres 2018: „Nicht verdient“ – diesmal in einer Rockversion. Auch diesmal ist Matzes frühere Ehefrau MICHELLE mit dabei – auch die Rockversion weiß zu überzeugen. Diese Version würde perfekt zum Schlagerbooom passen, der vielleicht überhaupt zu Reimfestspielen werden könnte, denn: MATTHIAS REIM und JULIAN REIM sind bereits bestätigt. Was spricht dagegen, auch MICHELLE einzuladen und vielleicht auch noch die gemeinsame Tochter MARIE? Ganz abwegig finden wir das nicht…
Wie dem auch sei, mit MR20 liefert Matthias Reim klar eines der besten Alben seiner Karriere ab. Sehr schade ist das Veröffentlichungsdatum in einer Woche, in der auch die Alben der Toten Hosen, der Kelly Family, von Howard Carpendale und vielen anderen erscheinen. Da ist eine Nummer 1 fast ausgeschlossen. Mit Verlaub haben SANTIANO da klüger agiert.
Abschließend haben wir mal nachgezählt – ist es „wirklich“ Matthias’ 20. Studioalbum? So ganz können wir das nicht nachvollziehen, es sei denn, man zählt eine Maxi-CD mit, was eigentlich unsinnig ist. Aber das mag auch in die Rubrik „Klugscheißerei“ fallen.
Update: Ein MATTHIAS-REIM-Experte (vielen Dank an Marko Czok) hat uns aufgeklärt: Das Album „Zauberland“ wurde 1995 auch in Kanada in englischer Sprache als „Wonderland“ veröffentlicht – okay, das könnte man als 20. Album werten. Die vollständige Übersicht sieht dann so aus:
- Matthias Reim (1990)
- Reim 2 (1991)
- Sabotage (1993)
- Zauberland (1994)
- Wonderland (1995)
- Alles klar (1995)
- Reim 3 (1997)
- Sensationell (1998)
- Wolkenreiter (2000)
- Morgenrot (2002)
- Reim (2003)
- Unverwundbar (2005)
- Männer sind Krieger (2007)
- Sieben Leben (2010)
- Die große Weihnachtsparty (2011)
- Unendlich (2013)
- Die Leichtigkeit des Seins (2014)
- Phoenix (2016)
- Meteor (2018)
- MR20 (2019)
Das Album 2019 weiß auf ganzer Linie zu überzeugen, und zur Not kann man es ja auch so deuten, dass es das Album „2020“ von Matthias Reim ist. Wir gratulieren zu einem dutzend toller neuer Lieder und freuen uns schon auf die Live-Umsetzung der fantastischen Titel…
Stephan Imming